Rudolf Tintner - Der Baumeister und Chronist von Theresienstadt

Es war ein kalter Tag, Schnee fiel, als 84 Personen am 10. März 1944 am Wiener Nordbahnhof einen von vier Schutzpolizisten bewachten Waggon Richtung Theresienstadt bestiegen. Einer von ihnen war der ehemalige Stadtbaumeister von St. Pölten Rudolf Tintner. Der aus einer assimilierten großbürgerlichen Familie stammtende Architekt wurde am 7. Juni 1878 in Brünn geboren. 1907 eröffnete er in St. Pölten ein Bauunternehmen und prägte das Aussehen der Stadt sowohl mit Großprojekten, wie der Glanzstoff-Fabrik, als auch mit mehreren gediegenen Wohnhäusern.
Unmittelbar nach dem Novemberpogrom musste Rudolf Tintner, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg zum Katholizismus konvertiert war, St. Pölten verlassen, seine Firmen schließen und zusehen, wie sein Besitz „arisiert“ wurde.

Noch aus dem Zug schrieb Tintner die erste – vorgedruckte – Postkarte an seine Töchter in Wien und begann wenige Tage später ein Tagebuch. Kurze Zeit nach seiner Ankunft in Theresienstadt fand er Beschäftigung in der Bautenabteilung des Lagers. Aufgrund seiner beruflichen Erfahrung übernahm er in der Folge die Leitung der Abteilung und erhielt einen potemkinschen Großauftrag: Anlässlich eines propagandistisch vorbereiteten „Besuchs“ einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes hatte die SS eine „Verschönerungsaktion“ von Theresienstadt angeordnet. Rudolf Tintner und die Mitarbeiter der Bautenabteilung mussten nun Fassaden gestalten, ein Café, einen Kinderpavillon und einen Sportplatz errichten, das Theater umbauen und vor allem das Elend des Lagers verstecken. Tintner hielt alles fest.

Am 9. Jänner 1945, nach zehn Monaten Haft und vier Monate vor der Befreiung Theresienstadts durch die Rote Armee, enden die Aufzeichnungen Rudolf Tintners abrupt. In der darauffolgenden Nacht verstarb er in seinem Büro in der Langestraße 9. Am 13. Jänner wurde er in Theresienstadt kremiert, die Urne wurde von einem Mithäftling nach der Befreiung nach Wien gebracht und am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.| Es ist die einzige Urne aus Theresienstadt, die in Österreich beigesetzt wurde.

Erhalten ist ein Tagebuch mit 274 Einträgen, das 251 singuläre Ereignisse beschreibt, 125 Personen namentlich nennt und 54 Orte listet. Weiters besteht das Kompendium aus vier Briefen, einer Postkarte sowie sieben Gedichten. Die Einzigartigkeit des Quellenmaterials liegt in diesem Fall im Vorhandensein dreier unterschiedlicher Egodokumente einer Person, die zeitgleich entstanden sind. Kann bei anderen Quellen nur gemutmaßt werden, welche Informationen als unwichtig betrachtet und deswegen nicht berichtet worden sind, wird im Kompendium Rudolf Tintners deutlich sichtbar, dass abhängig vom Zweck des jeweiligen Schriftstückes Informationen spezifisch beschrieben oder überhaupt weggelassen wurden.

Zielsetzung des Projekts ist eine Monographie, die in der Schriftreihe des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs im Studien Verlag erscheinen wird. Die Publikation soll das Tagebuch, die Briefe, Postkarten und Gedichte Rudolf Tintners enthalten und darüber hinaus mit kritischen Kommentaren eine historische Einordnung ermöglichen. Zusätzlich werden alle genannten Personen, Orte und Ereignisse eingeordnet bzw. verortet.

 Information:|mail: Dr. Benjamin Grilj|

 
Rudolf Tintner, ca. 1935. Copyright: Privatarchiv